Ein Bericht von Michael Hölscher
Wie verortet sich die Bibelwissenschaft zwischen politischer Theologie und antiker Literaturwissenschaft? Am Beispiel des Themas „Migration – Wie nah ist uns das Fremde?“ ist die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft der Assistentinnen und Assistenten an bibelwissenschaftlichen Instituten in Österreich (ArgeAss) vom 24.–26. September 2018 in Graz Fragen wie dieser nachgegangen.
Der Alttestamentler Franz Böhmisch (Passau) schärfte mit seinem Praxisbericht aus der Flüchtlingsarbeit den Blick für das Politische, andere Vorträge stellten Erzählfiguren der Bibel mit Migrationshintergrund vor, wie Abraham und Rut, gingen den nicht genannten fremden Frauen in den Gesetzestexten der Tora nach oder beschäftigten sich mit erzählten Räumen, Grenzen und Bewegungen. Immer wieder ging es dabei um Erfahrungen von Fremdheit oder um Identität, nicht nur in der Bibel.
Wie politisch ist die Exegese?
Auch er selbst sei in gewisser Weise „ein schizophrener Mensch“, gibt Böhmisch zu, dessen exegetisches Arbeiten und politisches Wirken wenig miteinander zu tun hätten: „Meine Helfermotivation stammt jetzt nicht unbedingt aus dieser biblischen Quelle, sondern eher aus der Frage: Was bedeutet Mitmenschlichkeit?“
Einen Versuch, diese Schizophrenie zu überwinden, unternahm Clarissa Breu (Wien) in ihrem Vortrag. Sie fragte, wie ein neutestamentlicher Beitrag zu einer migrationssensiblen Theologie aussehen kann. Ihr Fazit: „Eine als genuin migratorisch verfasste christliche Identität kann nicht als Bollwerk gegen konstruierte Fremde und Andere verwendet werden.“ Sie ging auf den 1. Petrusbrief ein, dessen Verfasser damit umgehen muss, dass sich die Christusgläubigen in Kleinasien als Minderheit in der römischen Mehrheitsgesellschaft fühlen. Der Brief deutet diese Situation neu und macht aus der Schwäche eine Stärke. Die erfahrene Fremdheit wird zur Kehrseite der besonderen Erwählung durch Gott und zum Ansporn für ethisches Handeln. Fremdheitserfahrung gebe es aber nicht nur unter den Christusgläubigen, sondern auch unter den Außenstehenden. Weil den Christen klare Identitätsmarker fehlten, sei es auch für Außenstehende schwer, die Christen als gesellschaftliche Gruppe einzuordnen.
Erzählfiguren der Bibel mit Migrationshintergrund
Worum geht es eigentlich, wenn wir von Integration sprechen? Agnethe Siquans (Wien) las das Buch Rut als Integrations- oder Assimilationsgeschichte. Indem die Nicht-Israelitin Rut über Heirat und familiäre Verbindungen in die Gesellschaft Betlehems eingebunden werde, verschwinde ihre Fremdheit. Nach der Heirat mit Boas sei von Rut als „Moabiterin“ gar nicht mehr die Rede. Die Erzählung führe vor, wie die Nicht-Abweisung einer Ausländerin für Israel einen positiven Beitrag leisten könne. Zugleich sieht Siquans das Problem der Funktionalisierung der Fremden, wenn hier implizit mit der „Nützlichkeit der Ausländer“ für eine Gesellschaft argumentiert werde.
Räume, Grenzen und Bewegungen
Die Frage nach Migration und Flucht ist im Kern auch immer eine Frage von Raum, Bewegung und Grenzüberschreitungen. Karoline Rumpler (Wien) nimmt etwa die alttestamentliche Rede von Gott als Zufluchtsort (hebr. ha Makom – „der Ort“) als theologisches Konzept ernst. Den Migrationserfahrungen des Volkes Israel und der erfahrenen realen Ortlosigkeit werde Gott als Zufluchtsort im Sinne eines Gegenraums gegenübergestellt.
Das vollständige Programm der Tagung ist hier zum Download verfügbar.